Krefelds Textilgeschichte: Samt- und Seidenstadt im Porträt

Krefeld, eine Stadt am linken Niederrhein, trägt einen Beinamen, der ihre Identität über Jahrhunderte geprägt hat: die Samt- und Seidenstadt. Was heute oft als charmante Reminiszenz an vergangene Zeiten verstanden wird, war einst das pulsierende Herz einer florierenden Industrie, die Krefeld zu internationalem Ruhm verhalf. Diese umfassende Betrachtung führt uns durch die Entstehung, Blütezeit und Transformation einer einzigartigen Textilgeschichte, die das Stadtbild, die Wirtschaft und die Kultur Krefelds bis heute tiefgreifend beeinflusst.
Die textile Tradition Krefelds reicht weit zurück. Im Mittelalter war die Stadt, wie viele andere Gemeinden am Niederrhein, vor allem für ihre Leinenweberei bekannt. Die bäuerliche Bevölkerung verarbeitete den selbst angebauten Flachs zu Leinenstoffen, die in der Region und darüber hinaus gehandelt wurden. Doch das Schicksal Krefelds sollte sich mit dem Eintreffen von Migranten im 17. Jahrhundert radikal ändern.
Die entscheidende Initialzündung für Krefelds Aufstieg zur Textilmetropole kam mit der Zuwanderung von Mennoniten und reformierten Glaubensflüchtlingen. Diese Gemeinschaften, die aus religiösen Gründen ihre Heimat verlassen mussten, brachten nicht nur ihre Arbeitskraft, sondern auch ein profundes Wissen und spezialisierte Fertigkeiten mit. Besonders die Mennoniten aus dem Raum Jülich und Gladbach, die sich in Krefeld ansiedelten, waren oft erfahrene Weber und Färber. Sie fanden in der kurkölnischen Exklave Krefeld ein tolerantes Umfeld, das ihnen die freie Ausübung ihres Glaubens und ihrer Berufe ermöglichte. Dieser Aspekt der religiösen Toleranz war ein wesentlicher Standortvorteil, da in vielen anderen Territorien des Heiligen Römischen Reiches religiöse Minderheiten verfolgt wurden.
Anfänglich widmeten sich auch die mennonitischen Zuwanderer der Leinenproduktion, doch es waren visionäre Köpfe wie die Familie von der Leyen, die das Potenzial für edlere Stoffe erkannten. Die von der Leyens, ursprünglich Leinenweber, wagten den Schritt zur Herstellung von Seide. Ihr mutiges Unterfangen war nicht ohne Risiko, denn die Seidenproduktion war komplex, rohstoffintensiv und erforderte hochspezialisiertes Wissen sowie erhebliche Investitionen. Doch der Erfolg gab ihnen recht.
Die ersten Seidenfäden wurden Ende des 17. Jahrhunderts in Krefeld gesponnen und gewebt. Der Übergang von der groben Leinenfaser zur feinen Seide markierte einen kulturellen und ökonomischen Sprung. Seide war ein Luxusgut, das Adel, Klerus und das aufstrebende Bürgertum begehrte. Krefeld hatte das Glück, über die richtigen Voraussetzungen zu verfügen:
Diese Faktoren schufen ein fruchtbares Umfeld, in dem die Seidenindustrie rasch Wurzeln schlagen und wachsen konnte.
Im 18. und 19. Jahrhundert erlebte die Krefelder Textilindustrie ihre absolute Blütezeit. Die Stadt etablierte sich als führendes Zentrum für Seiden- und Samtproduktion in Europa und wurde oft ehrfürchtig als 'Rheinische Lyon' bezeichnet, in Anspielung auf die französische Seidenmetropole. Die Qualität und das Design der Krefelder Stoffe waren weltweit gefragt.
Der Erfolg Krefelds beruhte auf einer Kombination aus meisterhafter Handwerkskunst, technologischer Innovation und einem unermüdlichen Streben nach Qualität. Die Krefelder Seidenweber waren bekannt für ihre Präzision und ihr Können. Sie beherrschten komplexe Webtechniken, die es ihnen ermöglichten, exquisite Muster und Texturen zu schaffen. Besonders der Krefelder Samt, mit seinem weichen Flor und der tiefen Farbbrillanz, erlangte legendären Status.
Die Entwicklung des Jacquard-Webstuhls im frühen 19. Jahrhundert revolutionierte die Musterweberei und ermöglichte die Produktion noch komplexerer und kunstvollerer Designs. Krefelder Hersteller nahmen diese Innovation schnell auf und passten sie an ihre Bedürfnisse an. Dies festigte ihren Ruf als Vorreiter in der Textiltechnologie.
Wichtige Merkmale der Krefelder Produktion im goldenen Zeitalter waren:
Die Familie von der Leyen blieb dabei federführend, aber zahlreiche andere Fabrikanten wie Verseidag, Heyes & Co., Deuss & Oetker oder Scheiff & Co. trugen ebenfalls maßgeblich zum Erfolg bei. Diese Unternehmen waren nicht nur Produktionsstätten, sondern auch Innovationszentren, die neue Techniken und Stoffqualitäten entwickelten.
Mit der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert veränderte sich die Produktionsweise grundlegend. Die Handwebstühle wurden zunehmend durch mechanische Webstühle ersetzt, die zunächst mit Dampfkraft, später mit Elektrizität betrieben wurden. Dies führte zu einer enormen Steigerung der Produktionskapazitäten und einer Standardisierung der Produkte. Krefeld war früh dabei, die neuen Technologien zu adaptieren.
Die Umstellung auf die industrielle Fertigung hatte tiefgreifende Auswirkungen auf die Stadt und ihre Bewohner:
Trotz der Härten des Fabrikalltags entwickelte sich in Krefeld auch eine einzigartige Arbeiterkultur. Das Leben war geprägt von der Arbeit an den Webstühlen, aber auch von den sozialen Bindungen innerhalb der Viertel und den Bestrebungen nach besseren Lebensbedingungen.
Der langfristige Erfolg der Krefelder Textilindustrie hing nicht nur von der Produktion ab, sondern auch von der Fähigkeit, sich kontinuierlich weiterzuentwickeln. Krefeld erkannte früh die Bedeutung von Bildung, Forschung und Design für die Zukunft der Branche.
Ein Meilenstein war die Gründung der 'Königlichen Preußischen Höheren Fachschule für Textilindustrie' im Jahr 1883, der heutigen Hochschule Niederrhein (Fachbereich Textil- und Bekleidungstechnik). Diese Institution bildete Generationen von Textilingenieuren, Designern und Managern aus und sorgte dafür, dass Krefeld stets über hochqualifizierte Fachkräfte und neuestes technologisches Wissen verfügte.
Die Schule wurde zu einem Experimentierfeld für neue Materialien, Verfahren und Designs. Hier wurden nicht nur technische Fähigkeiten vermittelt, sondern auch ein Bewusstsein für Ästhetik und die künstlerische Dimension der Textilgestaltung geschärft. Diese enge Verbindung zwischen Industrie, Forschung und Ausbildung war ein entscheidender Wettbewerbsvorteil für Krefeld.
Besonders prägend für das Krefelder Textildesign war die Einflussnahme der Bauhaus-Bewegung. In den 1920er und 1930er Jahren holten Krefelder Textilunternehmen, allen voran die Verseidag, renommierte Künstler und Architekten wie Ludwig Mies van der Rohe und Johannes Itten in die Stadt. Sie sollten innovative Stoffe und Farbkonzepte entwickeln, die den modernen Zeitgeist widerspiegelten.
Mies van der Rohe plante die ikonischen Gebäude der Verseidag, wie die Färberei oder das sogenannte 'Herrenkleid'. Er entwarf auch exklusive Möbelbezugsstoffe. Johannes Itten, ein ehemaliger Bauhaus-Meister, war ab 1932 als Lehrer an der Krefelder Textilschule tätig und brachte seine wegweisenden Farbtheorien und Gestaltungsgrundsätze ein. Dies führte zu einer Blütezeit des modernen Textildesigns, das Krefelder Produkte an die Spitze des Avantgarde-Designs katapultierte. Die damaligen Kollektionen der Verseidag sind heute begehrte Sammlerstücke und werden in Museen weltweit ausgestellt.
Diese Synergie zwischen Industrie und Kunst machte Krefeld zu einem einzigartigen Ort, wo handwerkliche Tradition auf futuristisches Design traf. Die Krefelder Textilfirmen waren nicht nur Produzenten, sondern auch Impulsgeber für Stil und Ästhetik.
Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte die Krefelder Textilindustrie noch einmal eine kurze Hochphase, doch ab den 1960er Jahren setzte ein Strukturwandel ein, der die Branche vor große Herausforderungen stellte. Globale Konkurrenz, der Aufstieg von Kunstfasern und veränderte Produktionsbedingungen führten zu einem Rückgang der traditionellen Textilproduktion in Krefeld.
Viele der einst so glorreichen Seiden- und Samtfabriken mussten schließen oder ihre Produktion drastisch reduzieren. Tausende von Arbeitsplätzen gingen verloren. Dieser Wandel war schmerzhaft für die Stadt und ihre Bewohner, die über Generationen mit der Textilindustrie verbunden waren.
Dennoch gelang es einigen Unternehmen, sich neu zu positionieren. Sie konzentrierten sich auf Nischenmärkte, technische Textilien, die Entwicklung innovativer Materialien oder den Handel mit Stoffen. Krefeld beherbergt heute immer noch Unternehmen, die in verschiedenen Bereichen der Textilwirtschaft tätig sind, auch wenn die Zeiten der Massenproduktion vorbei sind.
Trotz des Rückgangs der industriellen Produktion ist das Erbe der Samt- und Seidenstadt in Krefeld allgegenwärtig und wird aktiv bewahrt:
Krefeld ist heute eine Stadt, die sich ihrer reichen Geschichte bewusst ist und diese als Alleinstellungsmerkmal pflegt. Das Erbe der Samt- und Seidenstadt ist nicht nur ein nostalgischer Blick zurück, sondern ein Fundament, auf dem die Stadt ihre zukünftige Identität aufbaut. Es erinnert an eine Zeit, in der Krefeld mit seinen feinen Stoffen die Welt eroberte und zeugt von der Innovationskraft und dem Unternehmergeist ihrer Bürger.
Die Krefelder Textilgeschichte ist somit weit mehr als eine Aneinanderreihung historischer Fakten; sie ist eine lebendige Erzählung von Handwerkskunst, Handel, industriellem Fortschritt und menschlicher Kreativität. Sie zeigt, wie eine kleine Stadt am Rhein zu einem globalen Akteur wurde und wie ihr textiler Faden bis heute durch das Gewebe ihres kulturellen und wirtschaftlichen Lebens läuft.
Q1: Was bedeutet der Beiname 'Samt- und Seidenstadt' für Krefeld?
Der Beiname 'Samt- und Seidenstadt' verweist auf die historische Bedeutung Krefelds als eines der führenden Zentren für die Herstellung von Samt- und Seidenstoffen in Europa. Über Jahrhunderte prägte diese Industrie maßgeblich die Wirtschaft, Kultur und das Stadtbild Krefelds und machte ihre Produkte weltweit begehrt.
Q2: Welche Rolle spielten die Mennoniten für die Krefelder Textilgeschichte?
Die Mennoniten spielten eine entscheidende Rolle. Als Glaubensflüchtlinge brachten sie im 17. Jahrhundert nicht nur ihre Arbeitskraft, sondern auch spezifisches Wissen im Weben und Färben nach Krefeld. Ihre unternehmerische Initiative, insbesondere die der Familie von der Leyen, war der Grundstein für den Aufbau der Seidenindustrie in der Stadt.
Q3: Was war das 'goldene Zeitalter' der Krefelder Textilindustrie?
Das 'goldene Zeitalter' Krefelds erstreckte sich hauptsächlich über das 18. und 19. Jahrhundert. In dieser Zeit entwickelte sich die Stadt zu einer international renommierten Metropole für Seiden- und Samtproduktion, oft als 'Rheinische Lyon' bezeichnet, und ihre Produkte waren in ganz Europa und darüber hinaus gefragt.
Q4: Wie hat die Krefelder Textilindustrie das Stadtbild und die Gesellschaft geprägt?
Die Industrie führte zu einem enormen Bevölkerungswachstum und dem Bau prächtiger Fabrikanten-Villen sowie ganzer Arbeitersiedlungen. Fabriken prägten das Stadtbild, und der 'Schluff' (eine Güterbahn) diente dem Warentransport. Es entstand eine Schichtung der Gesellschaft, aber auch eine reiche Kultur, die von der Textilarbeit beeinflusst war.
Q5: Welche Bedeutung hat das Deutsche Textilmuseum in Krefeld?
Das Deutsche Textilmuseum Krefeld ist eines der weltweit bedeutendsten Museen für textile Kunst und Kulturgeschichte. Es bewahrt nicht nur das lokale Erbe der Samt- und Seidenstadt, sondern zeigt auch eine umfassende Sammlung textiler Objekte aus verschiedenen Epochen und Kulturen, was Krefelds globale Textilkompetenz unterstreicht.
Q6: Welche berühmten Architekten und Künstler waren mit Krefelds Textilindustrie verbunden?
Renommierte Künstler und Architekten wie Ludwig Mies van der Rohe und Johannes Itten vom Bauhaus waren eng mit Krefelds Textilindustrie, insbesondere mit der Firma Verseidag, verbunden. Sie entwarfen sowohl Fabrikgebäude und Villen als auch innovative Textildesigns, die Krefeld zu einem Zentrum modernen Designs machten.
Q7: Gibt es heute noch Textilproduktion in Krefeld?
Obwohl die Massenproduktion traditioneller Seiden- und Samtstoffe weitgehend eingestellt wurde, gibt es in Krefeld weiterhin Textilunternehmen. Diese haben sich oft auf Nischenmärkte, technische Textilien, die Entwicklung innovativer Materialien oder den Handel spezialisiert und setzen somit die textile Tradition der Stadt fort.
Q8: Welche Rolle spielt die Hochschule Niederrhein für die Textilbranche in Krefeld?
Die Hochschule Niederrhein, insbesondere ihr Fachbereich Textil- und Bekleidungstechnik, ist eine Nachfolgeinstitution der 1883 gegründeten 'Königlichen Preußischen Höheren Fachschule für Textilindustrie'. Sie bildet weiterhin hochqualifizierte Fachkräfte aus und ist ein wichtiges Kompetenzzentrum für Forschung und Entwicklung im Bereich der Textilwissenschaften, was die Innovationskraft Krefelds stärkt.
Q9: Welche Herausforderungen musste die Krefelder Textilindustrie bewältigen?
Ab den 1960er Jahren stand die Krefelder Textilindustrie vor großen Herausforderungen. Globale Konkurrenz, der Aufstieg synthetischer Fasern, steigende Produktionskosten und veränderte Konsumgewohnheiten führten zu einem Strukturwandel, der viele traditionelle Betriebe zur Schließung oder Neuausrichtung zwang.
Q10: Wie wird Krefelds textiler Faden heute lebendig gehalten?
Krefelds textiler Faden wird heute durch das Deutsche Textilmuseum, die Kunstmuseen Krefeld (Mies van der Rohe Häuser), die Hochschule Niederrhein, die Umwandlung ehemaliger Fabrikgebäude sowie durch verschiedene Initiativen zur Bewahrung des kulturellen Erbes lebendig gehalten. Die Stadt nutzt ihre reiche Textilgeschichte als identitätsstiftendes Merkmal.
Emma Schneider
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